Rabbinerfrau und Mutter
Lotte Carlebach-Preuss, 1932, Foto: Privatbesitz Miriam Gillis-Carlebach
Frühe Heirat
Charlotte Carlebach-Preuss wurde 1900 als älteste Tochter des Arztes Julius Preuss und seiner Frau Martha in eine gutsituierte Berliner Familie hineingeboren, die einer orthodoxen jüdischen Gemeinde angehörte. Nach dem frühen Tod des Vaters zog die Mutter die drei Kinder – Lotte hatte noch eine Schwester und einen Bruder – alleine auf. Lotte besuchte das Lyzeum in Berlin, wo Joseph Carlebach im jüdischen Religionsunterricht bis 1914 ihr Lehrer war. Er stammte aus einer Lübecker Rabbinerfamilie und war fast achtzehn Jahre älter als sie. Als er 1917 um ihre Hand anhielt, sollte die noch nicht 17jährige Lotte entgegen tradierten Gewohnheiten selbst entscheiden und willigte ein; nach ihrem 18. Geburtstag fand die Trauung statt. Zuerst wohnte das Paar in Lübeck. Als Joseph Carlebach zum Direktor der Talmud Tora Realschule in Hamburg ernannt wurde, zog die Familie mit den beiden in Lübeck geborenen Töchtern Eva und Esther in die Hansestadt.
Anfang 1922 kam die Tochter Miriam zur Welt und schon Ende 1922 der Sohn Julius, genannt Buli – besonders ersehnt vom Vater. Lotte Carlebach soll ihn gerügt haben: „Ich werde Töchter gebären, bis du dich freust.“ 1925 wurde der zweite Sohn, Salomon, genannt Peter, geboren. Im selben Jahr bekam Joseph Carlebach einen Herzanfall und zog sich zur Erholung zurück. Lotte schrieb ihm:
„Ich denke ja immer und immer nur an dich und wäre so unendlich gern mit dir auch nur ein einziges Mal durch den Schnee gewandert. Ich habe noch nie den Wald im Schnee gesehen. Wie herrlich ruhig und friedlich und zugleich frisch und froh muss das machen.“
Rabbinerhaushalt in Altona
Als Joseph Carlebach 1926 zum Oberrabbiner von Altona und Schleswig-Holstein gewählt wurde, zog die Familie nach Altona in die Palmaille 120. Zwischen 1926 und 1928 bekam Lotte Carlebach-Preuss drei weitere Töchter: Ruth, Noemi und Sara.
Lotte Carlebach mit ihren neun Kindern im Jahr 1931. Vorne: Peter, Noemi, Lotte Carlebach, Sara, Buli. Hinten: Miriam, Ruth, Eva, Esther, Judith. Foto: Privatbesitz Miriam Gillis-Carlebach Das Haus der Rabbinerfamilie stand immer offen für Gäste, Sabbatbesucher, ratsuchende Gemeindemitglieder. Es war ein Haus, in dem Lotte Carlebach-Preuss nach koscheren Speisegesetzen kochte und in dem jüdische Religion und Kultur nach orthodoxen Regeln gelebt wurden.
„Dass Kinder kranker Mütter oder aus Familien der diversen Gemeindemitglieder in Krisenzeiten wie etwa einer Schiw`a, der siebentägigen Trauerwoche, bei uns als Logiergäste weilten, war so selbstverständlich, dass es sozusagen gar nicht mitgezählt wurde. Je nach Lage machte Mutti Krankenbesuche, schickte von ihr gekochte Gerichte ins Haus, von denen besonders Erdbeeren mit Zitronenkrem als Heilmittel wirkten, oder mobilisierte eine ihrer beiden großen Töchter, um in dem besagten Haushalt zu helfen.“
Miriam Gillis-Carlebach
Die Carlebachsche Kellerküche diente als Sammelstelle für die so genannte “Pfundsammlung” zur Unterstützung bedürftiger Familien: Jede Hausfrau spendete jeden Monat ein Pfund Lebensmittel nach eigener Wahl. Lotte Carlebach unterstützte arme junge Frauen, die heiraten wollten, bei den Hochzeitsvorbereitungen; sie nahm bedürftige Mädchen im Haus auf, bis sie woanders Unterkunft fanden, einmal auch ein junges Mädchen, das ein uneheliches Kind erwartete. 1931 zogen Carlebachs von der vornehmen Palmaille in die eher bescheidene Behnstraße 39 in der Altonaer Altstadt; Tochter Miriam schilderte später, dass „besonders die Behnstraßenwohnung der Wallfahrtsort für arme Leute“ und „Bittsteller“ gewesen sei.
Eingang Behnstraße 39, Familie Carlebach (mit Hausangestellten), ca. 1931
Foto: Privatbesitz Miriam Gillis-Carlebach
Alltag unter der NS-Herrschaft
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 begann die Verfolgung der Hamburger und Altonaer Juden.
Ruth „war so blond und blauäugig … Im Jahre 1935 mussten meine armen Eltern durch eine Blutuntersuchung beweisen, dass die nordisch aussehende Neunjährige keine Arierin war, sondern ein echtes deutsches Rabbinerkind. Meine älteste Schwester Eva hingegen sah ganz ‚Carlebachsch‘ aus. Sie hatte lange schwarze Zöpfe, schwarze Augen und mit ihrem dunklen Teint wurde sie schon in den frühen dreißiger Jahren als ‚Judenmädel‘ identifiziert und beleidigt.“
Miriam Gillis-Carlebach
In den Jahren 1934/35 wohnten die Carlebachs in der Palmaille 57. Die Allee war inzwischen zum Aufmarschplatz der Nationalsozialisten geworden. Uniformierte Jungen wurden stundenlang gedrillt. Als ein Hitlerjunge ohnmächtig wurde, wurde er ins Rabbinerhaus gebracht und umstandslos von Lotte Carlebach-Preuss versorgt.
Foto: aus: Die Stadt Altona, Palmaille 1928
1936 wurde Joseph Carlebach zum Hamburger Oberrabbiner gewählt und die Familie zog wieder in die Hansestadt, in die Hallerstraße 76.
Emigration der fünf älteren Kinder
Als Miriam den Eltern eröffnete, dass sie nach Palästina emigrieren wolle, weinte die Mutter. „Als ich sie trösten wollte: Aber Mutti, acht Kinder bleiben dir doch noch zu Hause! sagte sie nur: Jedes Kind ist mein einziges, ich habe schon jetzt Sehnsucht.“
Im Oktober 1938, ein Jahr vor dem Abitur, ging die 16-Jährige mit einem Touristenvisum nach Palästina. Es gelang den Eltern, 1938 auch Judith und Julius und 1939 Esther und Eva mit Kindertransporten der jüdischen Gemeinde ins rettende England zu schicken.
Miriam Carlebach (unterste Reihe, zweite von links) in der ersten Mädchenklasse der Talmud-Tora-Realschule 1938
Foto: Institut für die Geschichte der deutschen Juden
Deportation
Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung verschärfte sich mit dem Novemberpogrom 1938, viele jüdische Männer kamen ins KZ Sachsenhausen, jüdische Ärzte und Juristen verloren ihre Zulassung, es begann die Zusammenlegung in sogenannte Judenhäuser. Joseph Carlebach hätte Gelegenheit gehabt, mit seiner Frau und den Kindern Deutschland zu verlassen, doch die Verantwortung für die verbliebenen Gemeindemitglieder hielt ihn in Hamburg. Lotte Carlebach hoffte offenbar auf einen Stimmungsumschwung ihres Mannes und eine Möglichkeit zur Auswanderung. Sie schrieb an ihre Kinder:
„Das wahre Glück wird aber erst wiederkehren, wenn wir mit euch vereint sind, an denen wir so innig hängen. Möge das neue Jahr uns Glück bescheren.“
Doch mit Kriegsbeginn im September 1939 war eine Flucht kaum noch möglich. Joseph und Lotte Carlebach wurden am 6. Dezember 1941 mit den vier jüngsten Kindern ins Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga deportiert. Bei einem Massaker am 26. März 1942 im nahe gelegenen Wald von Biķernieki wurden die Eltern und die Töchter Ruth, Noemi und Sara erschossen. Nur Salomon (Shlomo Peter) Carlebach, der einem Arbeitskommando zugeteilt worden war, überlebte. Er wurde später Rabbiner in New York. Miriam Gillis-Carlebach, ab 1992 Leiterin des Joseph-Carlebach-Instituts an der Bar-Llan-Universität in Israel, veröffentlichte ein Buch über ihre Mutter – zugleich ein bewegender Einblick in die Geschichte der Jüdischen Gemeinde und in die Geschichte Altonas:
„Jedes Kind ist mein Einziges“. Lotte Carlebach-Preuss – Antlitz einer Mutter und Rabbiner-Frau, von Miriam Gillis-Carlebach, erschienen 2000 in Hamburg beim Dölling und Galitz Verlag
Miriam Gillis-Carlebach zu Besuch im Stadtteilarchiv Ottensen, Foto: Stadtteilarchiv Ottensen
Forschungsprojekt „Jüdisches Leben in Altona“
Zeitzeugengespräche in Israel
Zwei Mitglieder des Stadtteilarchivs, Ulla Hinnenberg und Erika Hirsch, reisten im Sommer 1986 durch Israel auf der Suche nach Spuren der traditionsreichen Altonaer Jüdischen Gemeinde. Sie trafen dort Altonaer und Altonaerinnen, die die NS-Zeit überlebt hatten, denen es gelungen war, auszuwandern bzw. rechtzeitig zu fliehen. Ihre Zeitzeugenerinnerungen, Fotos und Dokumente bildeten den Grundstock einer Sammlung des Stadtteilarchivs und wurden teilweise repräsentiert in einer Ausstellung und in Veröffentlichungen. Die Sammlung ist im Stadtteilarchiv zugänglich.
„Mit vielen, vielen Menschen sprechen wir über „Altona damals“. Wir sind glücklich über die unerwarteten, ungeahnten Schätze an Erinnerungen und Fotografien und gleichzeitig so sehr bedrückt angesichts des Gehörten – Verfolgung, Deportation, Verlust der Heimat, Tod der Angehörigen.“
Jugendliche aus der Altonaer Ausbildungsstätte „Ejn Chajim“ vor ihrer Auswanderung nach Palästina
Foto: Stadtteilarchiv Ottensen